Tiere in der Wildnis des Nordens:

Mit der Ankunft von Pflanzen kommen Tiere, und die Nacheiszeit in Norwegen war keine Ausnahme. In den Gebirgen und in der baumlosen Tundra machten Wölfe und Vielfraße Jagd auf große Rentierherden. Übrige Arten, die gleichzeitig aufkamen, waren Polarfuchs, Hase, Hermelin und mehrere kleine Nagetiere.

Das bekannteste der letztgenannten Gruppe ist der Lemming. Im Laufe eines Vier-Jahres-Zyklus variiert die Menge dieser kleinen Nagetiere beträchtlich. In den ersten drei bis vier Jahren nimmt ihre Anzahl stetig zu, um danach im Laufe von nur wenigen Monaten dramatisch abzusinken. Die Ursache ist nicht bekannt, obwohl es zahlreiche Theorien gibt. Außerdem findet bei den Lemmingen alle elf bis zwölf Jahre eine gewaltige Bevölkerungsexplosion statt. Die Konkurrenz um Nahrung wird dann so stark, daß viele Tiere sich auf eine lange Wanderschaft begeben. In den sogenannten Lemmingjahren wimmelt es in den Bergen und den sie umgebenden Ortschaften von Tausenden und Abertausenden von diesen kleinen Tieren. Dann ist für Raubtiere und Vögel der Tisch reich gedeckt, und sie bekommen häufig doppelt so viele Junge wie normalerweise. Die Jäger freuen sich auf die Lemmingjahre, weil es dann in den Bergen viel mehr Schneehühner gibt als sonst. Die Raubvögel, die gewöhnlich Schneehuhneier und -junge fressen, ernähren sich nämlich in dieser Zeit fast ausschließlich von Lemmingen, die sich soviel leichter fangen lassen.
  Die Lemmingjahre haben den Menschen schon seit prähistorischer Zeit fasziniert, und im Mittelalter glaubte man, diese Tiere fielen bei Gewitter vom Himmel. Naturforscher haben für das enorme Ansteigen der Zahl der Lemminge keine überzeugende Erklärung finden können.
  Ein fremder Gast, dem wir in Lemmingjahren in den norwegischen Bergen immer wieder begegnen, ist die einen Meter große, schneeweiße Schnee-Eule. Sie lebt in den polaren Regionen, fliegt aber häufig Tausende von Kilometern dorthin, wo es reichliche Mengen kleiner Nagetiere gibt. Wie sie im voraus wissen kann, wo es ein Lemmingjahr geben wird, ist ein weiteres Mysterium der Natur. Im übrigen spiegelt das Vogelleben im Gebirge deutlich wider, wie schwer es ist, im Winter hier zu leben.
  Außer Rabe, Adler, Jagdfalke und Schneehuhn sind alle Gebirgsvögel Zugvögel. Einige ziehen nur hinunter an die Küste, andere nehmen Kurs aufs Mittelmeer und auf Afrika. Der Rabe lebt vom Aas des Wolfs und des Vielfraßes und von dem, was er sonst an toten Tieren und Abfall findet. Das Schneehuhn ernährt sich von den Knospen der Kriechweide und der Birke. Wenn Sturm aufkommt -- was häufig geschieht --, gräbt es sich nur in den Schnee hinein und schläft ein paar Tage. Der Schnee isoliert nämlich gut dank all der Luft zwischen den Flocken. Ein wenig unter der Schneeoberfläche sinkt die Temperatur nie unter minus fünf Grad Celsius.
  Dem Einzug des Waldes in Norwegen folgte eine reiche Fauna von Waldtieren wie Bär, Luchs, Marder, Elch, Hirsch, Eichhörnchen, Rotfuchs und Biber. Auch waren die Wälder voll von Vögeln wie etwa den großen Hühnervögeln Auerhuhn und Birkhuhn neben zahlreichen Eulen, Spechten, Raubvögeln und einer großen Zahl kleinerer Vögel. Zu den Seen und Sümpfen kamen Arten wie der Kranich, der Singschwan, der Seetaucher, Gänse, Enten und viele Sumpfvögel. An der Küste befanden sich die Nistklippen mit Millionen von Dreizehenmöwen, Lummen, Alken, Papageitauchern, Kormoranen und Möwen. In dieser Speisekammer ist der Seeadler zu Hause. Kranke und schwache Individuen werden von diesem König der Küstengewässer gnadenlos beseitigt. Vor etwa dreißig/vierzig Jahren war der Seeadler eine bedrohte Art. Heute jedoch nimmt seine Zahl zu, und er wird sogar in Länder exportiert, in denen er ausgerottet war, um dort neue, lebensfähige Bestände zu schaffen. Der Riesenalk war ein 50 cm großer Alkenvogel, der einem Pinguin glich. Zu Millionen nistete er um den ganzen Atlantik herum und war Bestandteil des Speisezettels der Menschen in der Stein- und Bronzezeit. Er konnte aber nicht fliegen, und das war sein Verderben. Auf den Riesenalk wurde rücksichtslos Jagd gemacht. Um 1750 war er aus Norwegen verschwunden, und hundert Jahre später wurde das letzte Exemplar bei Island abgeschossen -- noch ein Beispiel für den Raubbau, den der Mensch mit der Natur treibt.
 



An der Küste gab es außerdem große Robben- und Walvorkommen. Die Vorfahren der heutigen Norweger haben in großem Ausmaß Jagd auf Robben gemacht, aber solange die Fischbestände nicht überfischt waren, gab es Raum genug für sowohl Fisch als Robbe. Aufgrund intensiver Bejagung gab es schließlich nur noch kleine Robbenbestände. Dann aber wurden diese Tiere unter totalen Naturschutz gestellt, und jetzt erholen sich die Bestände wieder.
  Der Fisch ist ein Kapitel für sich. Zuerst kamen Dorsch, Schellfisch, Seelachs und Heilbutt. Sie verbreiteten sich entlang der Küste bis hinauf zum Eismeer und waren jahrtausendelang wichtige Lebensgrundlage der Küstenbevölkerung. Viele von diesen Arten leben weit draußen im Meer und suchen die Küste nur auf, um zu laichen. Die wichtigste Art ist der Dorsch, der in der Barentssee lebt und in großen Mengen zu den Lofot-Inseln wandert, um dort abzulaichen. Schon in der Wikingerzeit wurde in ausgedehntem Maße Dorsch gefischt, und das ganze Mittelalter hindurch machte Dörrfisch von den Lofoten zwischen 40 und 70 Prozent des norwegischen Exports aus! Als die Flüsse aus dem Eis auftauchten, schwammen Lachs, Saibling und Forelle flußaufwärts, um abzulaichen. Sie sind die einzigen Fischsorten an der norwegischen Küste, die sowohl Salz- als auch Süßwasser vertragen. Forelle und Saibling blieben in den Seen und wurden häufig von Menschen flußaufwärts gebracht. Der Lachs demgegenüber wächst im Meer seiner Reife entgegen und schwimmt nur den Fluß hinauf, um zu laichen und zu sterben. Im Frühjahr darauf kehrt der junge Lachs mit der Schneeschmelze ins Meer zurück. In einer Periode nach der Eiszeit lagen die Landmassen höher, als es heute bei Dänemark und Südschweden der Fall ist. Die Ostsee wurde damals mit von den Flüssen kommendem Süßwasser gespeist, und das Wasser floß auf dem Wege über die nördlich von Leningrad gelegenen großen Binnenseen Ladoga und Onega ins Weiße Meer. Die Süßwasser-Ostsee füllte sich mit Fisch aus den mitteleuropäischen Flüssen, und von dort aus war der Weg frei nach Skandinavien. Die wichtigsten Arten, die auf diesem Wege kamen, waren Flußbarsch, Renke, Hecht und Äsche. Sie werden häufig Weißfische genannt, weil sie von Pflanzenresten, Insekten und Tieren leben und nicht von Krebstieren, die das Fleisch rot färben wie etwa bei Lachs, Forelle und Saibling. Auf dem Weg über schwedische und finnische Flüsse schwammen sie nach Ostnorwegen und in die Finnmark. Sie sind aggressiv, und im tiefer gelegenen Land verdrängten sie Forelle und Saibling. Die Berge versperrten den Weg nach West- und Südnorwegen, so daß es in diesen Flüssen nur Forelle und Lachs gibt.
  Wie nun ist es heute um das Tierleben Norwegens bestellt? Die großen Raubtiere wie Luchs, Vielfraß, Bär und Wolf sind fast ganz ausgerottet. An ihre Stelle sind zwei Millionen Schafe und rund 200 000 Hausrene getreten. Der Wolf ist praktisch verschwunden, während es von den anderen Arten weiterhin kleine Bestände gibt. Die letzten wilden Rentiere Europas finden wir heute noch auf der norwegischen Hardangervidda und in den Bergen, die dieses Hochplateau umgeben. Die Zahl der wilden Rentiere beträgt zur Zeit etwa 15 000, und der Bestand ist gesund.
  Auch im Wald haben große Veränderungen stattgefunden. Kahlschlag großen Ausmaßes hat die Umwelt vollkommen verändert. Tierarten wie Bär und Marder sind -- ebenso wie Auerhuhn und Birkhuhn -- zurückgegangen.
  Der Elch demgegenüber profitiert von den Weidemöglichkeiten in dem baumlosen Gelände, und sein Bestand hat sich in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren vervielfacht. Jedes Jahr werden ca. 40 000 Tiere erlegt, ohne daß der Bestand geschwächt würde.
  Der Biber ist ein klassisches Beispiel für erfolgreichen Naturschutz. Kurz vor dem Weltkrieg betrug der Biberbestand Europas um 500 bis 600 Tiere, deren Aufenthaltsort die Agder-Fylker Südnorwegens waren. Dank totalen Naturschutzes hat die Zahl der Biber kräftig zugenommen, und heute hat sich der Bestand über weite Teile der alten Jagdgründe der skandinavischen Halbinsel verbreitet. Norwegen hat sogar Biber in die Schweiz, die ehemalige Tschechoslowakei und nach Rußland geschickt, um diesen Ländern dabei zu helfen, ihre ursprüngliche Fauna wiederherzustellen.




Der Autor des Artikels, Leif Ryvarden, ist Professor in der Abteilung für Botanik am Biologischen Institut der Universität Oslo.
Herausgegeben von Nytt fra Norge für das Kgl. Norwegische Außenministerium.
Für den Inhalt des Beitrags ist ausschließlich der Autor verantwortlich. Nachdruck gestattet.
Gedruckt im März 1996.

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